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Marmeladenwahl

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Kunden, Wandel

Wer heute ein Glas Marmelade will, muss sich zwangsläufig entscheiden, und nicht mehr, wie in früheren Jahrzehnten, zwischen der billigen und der teuren in jeweils fünf Geschmacksrichtungen, sondern zwischen unzähligen Varianten, Marken, Glasformen, Herkunftsländern, Ausfertigungen, Bio, Regio, Fair Trade, mit oder ohne Konservierungsstoffe, Säuerungsmittel und naturidentischen Aromen, fettfrei, zuckerfrei, gluten- oder lactosefrei und zwischen schnöder Erdbeermarmelade oder alternativ „Holunder-Topinambur, der Konfitüre des Herbstes“. Dieses Phänomen betrifft nicht nur Lebensmittel – dort gipfelnd in sozusagen Totalwahlseiten wie mymueslidotcom –, sondern nahezu alle Produktbereiche. Was kann man tun?
Zum Beispiel die Augen zusammenkneifen, sich dreimal um sich selbst drehen und zugreifen. Das kann aber auch mit Mango-Avocado enden. Oder gleich Nutella essen. Obwohl die ja auch gerade an der Rezeptur gedreht haben. Die letzte Bastion der Unveränderlichkeit scheint gefallen.
Interessanterweise kann man in der ganzen Frage einen verborgenen Widerspruch entdecken. Die Industrie stellt ja all die vielen Marmeladen und die 88 verschiedenen Deoroller nicht aus Jux und Tollerei her, sondern weil der Verbraucher das angeblich will und, wenn er seinen Willen nicht bekommt, glatt woanders kauft, wo man ihm mehr zu Willen ist. Gleichzeitig beobachtet man beim Einkaufen überall Menschen mit milden Panikattacken, weil „ihr“ Produkt nicht mehr verfügbar ist, wie es letzte Woche war, sondern in neuer Verpackung in fünf neuen Duftrichtungen mit neuen Inhaltsstoffen. Will sagen, eigentlich ist nur der Markenname noch gleich.
Die von uns angeblich oder sogar tatsächlich gewünschte Wahlfreiheit kostet Zeit. Und eben nicht nur dort, wo Produkte entwickelt, hergestellt und verkauft werden. Wir müssen uns informieren, und wir müssen uns entscheiden. Und die eine Wahl haben wir definitiv nicht, solange sich nicht Grundsätzliches ändert: Dass man uns mit all diesen Wahlmöglichkeiten in Ruhe lassen möge.
Zurück zu der Frage, wie denn Abhilfe aussehen kann. Das „die Wirtschaft“ ein Einsehen haben möge, wird frommer Wunsch bleiben. Dort gibt es gar keine Mechanismen, die greifen, ohne dem Vorreiter zu schaden. In einem Staat, in dem die Art und Anzahl von Marmeladen oder Deorollern, die im Angebot sein dürfen, reglementiert ist, wird niemand im Ernst leben wollen. Bleibt die „Macht des Verbrauchers“ im ganz Kleinen. Wer selbst immer nach den neuesten Sorten greift, darf sich schließlich nicht wundern. Also kann eine Lösung beispielsweise so aussehen: Sich seine Lieblingsmarmeladensorten aussuchen und nur noch die kaufen – dann hat man die große Wahl nur einmal und danach nur die kleine.