+49 (0) 4342.7286054

Low Complexity

Wie mit allem, so ist es auch mit der Freiheit: Wenn sich Wünsche erfüllen, gibt es sofort wieder ein Haar in der Suppe. Gerade mehren sich die Klagen über die vielen Wahlmöglichkeiten, die uns unsere moderne freiheitliche Welt – will sagen: in den westlichen Industrienationen – bietet. Wahlmöglichkeit heißt nämlich gleichzeitig auch Wahlpflicht.
Vor diesem Hintergrund erschien mir neulich eine online-Diskussion in völlig neuem Licht. Dort kämpften Vertreter der Low-Carb-Welle gegen einen Ernährungswissenschaftler, der in ihren Augen in seinem Blog Abfälliges über ihre Lebens- und Denkweise geäußert hatte, indem er die Low-Carb-Ernährung als sinnvolles Konzept in Frage stellte.
Interessant fand ich, dass die vorgebrachten Argumente eigentlich gar keinen Gegensatz darstellten. Der Wissenschaftler versuchte zu verdeutlichen, dass die hinter Low Carb stehenden physiologischen Erklärungsmuster falsch sind, die Befürworter fanden, es würde ihnen damit aber so viel besser gehen und sie hätten so schön abgenommen. Genau genommen kann beides gleichzeitig stimmen. Man könnte sich sogar einen schönen Kompromiss vorstellen in Sinne von Low Carb als Zwischenstufe auf dem Weg von Fastfood und Mikrowellendinner zu einer noch gesünderen und ausgewogeneren Ernährung.
Was da aber eigentlich aufeinanderprallte und weswegen es auch nicht zu einer Einigung kommen konnte, waren Vertreter von „Sag mir in einfachen Worten, was ich tun soll“ und ein Vertreter von „Die Welt ist aber viel, viel komplexer und so vereinfachende Regeln sind inakzeptabel“. Oder in anderen Worten, vielleicht etwas unzulässig zugespitzt: Glaube und Aufklärung. Da hat jemand gerade einen für ihn gangbaren Weg gefunden, und schon kommt ein anderer um die Ecke und behauptet, die Erde drehe sich um die Sonne. Geht gar nicht.
Vielleicht ist das überhaupt eines der grundlegenden Probleme in der Kommunikation zwischen Welt und Wissenschaft, dass sich die Experten darüber klar werden müssen, wann es dem Gegenüber frei nach Kant um die Frage „Was kann ich wissen?“ geht und wann um „Was soll ich tun?“. Es kann eben auch die Aufgabe sein, die von einem selbst erkannte Komplexität der Dinge zu übersetzen in Handlungsanweisungen, die einem nicht den Kopf schwirren lassen. Und das einem in der komplexen wirklichen Welt als Orientierung dienen kann. Low Complexity, sozusagen.
Was andererseits die Anwender einer vereinfachenden Weltsicht akzeptieren könnten, ist, dass an diesen Handlungsanweisungen dann ständig weiter gearbeitet wird und dass sich so ein vereinfachendes Bild ändert, wenn neue Erkenntnisse nicht nur das komplexe Weltverständnis, sondern auch dessen Ableitung für das tägliche Leben betreffen.