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Amputation

Viele, gefühlt: die meisten, Menschen in unserer Gesellschaft leiden heute unter Zeitnot. Die Stunden des Tages reichen schlicht nicht für alles.
Abhilfe verspricht unter anderem das „Entrümpeln“, also das Aussortieren alles Unwichtigen, Überflüssigen – der Zeitfresser eben. Wer das aber einmal wirklich probiert hat, kann seltsamerweise feststellen, dass der Druck eher steigt als abnimmt. Ursache? Unbekannt? Nicht ganz.
Was nämlich dabei übrig bleibt, sind ja all die Dinge, Tätigkeiten, Beziehungen, die Wünsche und Träume, die als wichtig und wesentlich eingestuft nun den Kern des neuen, freieren Lebens bilden sollen. Und das ist in der Regel immer noch weit mehr, als auch der Fleißigste und Belastbarste in 24/7 unterbringen kann. Nun aber kommt zu der zeitlichen Überlastung auch noch ein exponentiell wachsendes schlechtes Gewissen. Denn während man vorher leicht achselzuckend daran denken konnte, dass man doch auch noch die neuen Aufhänger an die Geschirrhandtücher nähen wollte, die Oma einem damals zum Einzug geschenkt hatte – na gut, ein andermal – geht es nun nur noch ums Eingemachte. Für die einzelnen Lebensbereiche sind Kernziele definiert, die miteinander um die vordersten Plätze auf der Prioritätenliste streiten.
Dazu erklärt uns die Glücksforschung auch noch, man bedaure in der Rückschau viel mehr, was man gelassen oder nicht gewagt, als, was man getan habe. Ein guter Hinweis für den Zögerlichen. Für den völlig Überlasteten kommt das dagegen beinahe einer Drohung gleich.
So wie sich der in der Falle gefangene Wolf die eigene Pfote abbeißt, hilft auch hier am Ende nur eines: Ein klarer Schnitt. Der Abschied von einem Teil der wichtigen Vorhaben, von denen man sich Zufriedenheit, Erfüllung und das Nutzen des eigenen Potentials erhofft. Diesmal gilt es abzuwägen nicht zwischen Kinkerlitzchen, sondern zwischen dem, was den Kern des eigenen Seins ausmachen soll. Was ist wichtiger: Beruf und Karriere? Familie? Gesundheit? Das kann in schwerwiegenden Fällen einer Amputation gleichkommen. Aber wie in der Medizin kann einen zu langes Zögern – hier im übertragenen Sinne – das Leben kosten.